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Das Europa-Paradox

Was bei der Europawahl 2019 auf dem Spiel steht – und wie wir jetzt handeln können.
von Simon Vaut

Ein Vermächtnis des kürzlich verstorbenen Friedensnobelpreisträgers und ehemaligen UN-Generalsekretärs Kofi Annan lautet: „Alles, was das Böse benötigt, um zu triumphieren, ist das Schweigen der Mehrheit.“ Bei der vorigen Europawahl haben viele geschwiegen. Zu viele. 52 Prozent der Wahlberechtigten in Deutschland haben ihre Stimme verschenkt, indem sie der Wahl fernblieben. Am größten war die Apathie der jungen Generation: Die 21 bis 24-Jährigen beteiligten sich 2014 nur zu einem guten Drittel (35,3 Prozent). EU-weit gingen ganze 43,1 Prozent der Bürger zur Wahlurne.

Das Desinteresse am EU-Parlament schwächt dessen Autorität als einzige direkt demokratisch legitimierte Institution.

Dieses Desinteresse am Europaparlament schwächt die Autorität und Legitimität der einzigen direkt demokratisch legitimierten EU-Institution. Formell ist das Parlament zwar durch Reformen schrittweise erstarkt. Aber um gegenüber den anderen EU-Institutionen als Machtfaktor mit starker Stimme zu sprechen, braucht es den Rückhalt der europäischen Bürger. Denn wenn das Parlament Widerspruch gegen die zuweilen als bürokratisch empfundene EU-Kommission oder den Europäischen Rat, der die Interessen des Nationalstaats vertritt, erhebt, können diese Institutionen auf die geringe Wahlbeteiligung verweisen, um Vorschläge oder berechtigte abtropfen zu lassen.

Die geringe Wahlbeteiligung führt zu einer Verschiebung der Kräfte zugunsten der Gegner des vereinten Europas.

Noch schwerer wiegt, dass die geringe Wahlbeteiligung zu einer Verschiebung der Kräfte zugunsten der Gegner des vereinten Europas führt. Denn populistische und radikale Kräfte schaffen es, Wähler zu mobilisieren. Die Folge: Schon heute arbeitet jedes dritte Mitglied des EU-Parlaments destruktiv gegen das geeinte Europa. Wird dieser Trend nicht gebrochen, werden nach der Wahl im Mai 2019 mehr Antieuropäer vom Schlage Nigel Farage im EU-Parlament sitzen denn je; die konstruktive Arbeit wäre massiv erschwert. Diese verantwortungsfreien Radikale versuchen, das Friedens- und Wohlstandsprojekt Europäischen Union zu spalten. Der unüberhörbare Warnschuss des BREXIT-Votums hat gezeigt, wie gravierend die Konsequenzen ausfallen, wenn die Gegner des geeinten Europas die Oberhand gewinnen.

Die Regel „Europa ja – Europawahl nein“ ist bedauerlich, weil gerade das Parlament maßgebliche Entscheidungen trifft.

Beim Thema Europa wird ein Paradox deutlich: Zwar genießt die EU abstrakt Zustimmung auf Rekordniveau. 75 Prozent der Deutschen und mehr als zwei Drittel der europäischen Bürger insgesamt finden laut „Eurobarometer“, dass ihr Land von der EU-Mitgliedschaft profitiert – der höchste Zustimmungswert seit 1983. Zugleich aber werden die EU und ihre Institutionen als „bürgerfern“ und „bürokratisch“ eingeschätzt. Es gilt also die Faustregel: Europa ja – Europawahl nein. Das ist umso bedauerlicher, weil gerade das Europäische Parlament maßgebliche Entscheidungen trifft zu Fragen, die viele Menschen zunehmend interessieren. Der Streit um die Handelsabkommen CETA und TTIP mobilisierte von Hunderttausende von Bürgern auf Europas Straßen und Plätze. Die Debatte um so genannte Uploadfilter und die Freiheit im Internet hat Netzaktivisten auf die Barrikaden gebracht und beinahe zu einem Stopp der Kommissionspläne im Europäischen Parlament geführt. Und das frühere Spezialistenthema Abgaswerte ist seit dem Diesel-Skandal ein an allen Tresen diskutierter Aufreger. Das sind nur drei für viele Menschen wichtige Fragen, bei denen das EU-Parlament als zentrale Entscheidungsinstanz agiert.

Was muss also geschehen, damit aus der allgemeinen Zustimmung der Bürger zu Europa und ihrem erheblichem Interesse an europäischen Themen auch Stimmen für das weltweit einzige Parlament werden, das demokratisch für 28 Staaten gemeinsam bindend Beschlüsse fasst ?

Es muss besser kommuniziert werden, wie wichtig Europas Themen für Europas Bürger sind.

Erstens muss besser kommuniziert werden, wie wichtig Europas Themen für Europas Bürger sind. Zumindest die etablierten Akteure leben mit ihren Pressemitteilungen und Hintergrundgesprächen oft noch in den Kommunikationswelten der 1990er Jahre. Dabei haben die sozialen Medien die politische Kommunikation revolutioniert. Und die neuen populistischen Herausforderer haben längst gelernt, Bürger effektiv anzusprechen – nämlich direkt emotional, kurz und einfach. Im digitalen Zeitalter muss diese Kommunikation auch den Befürwortern Europas gelingen – pointiert, manchmal auch verkürzt mit Mut zur Lücke. Etwas mehr Pathos und Zuspitzung kann dem Parlament und seinen Abgeordneten nicht schaden.

Da die klassischen Medien an Reichweite verlieren, müssen die Europapolitiker selbst verstärkt kommunizieren.

In der Vergangenheit waren es meist Journalisten, die für die Europapolitik diese „Übersetzungsarbeit“ leisteten. Aber die klassischen Medien verlieren an Reichweite und Deutungshoheit. Deshalb müssen Europapolitiker verstärkt selbst mit Hilfe der sozialen Medien kommunizieren. Genau wie es der wohl bekannteste Europaabgeordnete und Satiriker Martin Sonneborn mit Erfolg tut – nur eben in konstruktiv und mit Inhalten. Soziale Medien bieten zudem die Möglichkeit, mit den Wählern daheim im Wahlkreis direkt in Kontakt zu treten und deren Fragen live aus Straßburg oder Brüssel zu beantworten.

Das EU-Parlament muss die Gesamtbevölkerung besser repräsentieren. Das bedeutet: es muss vielfältiger und jünger werden.

Zweitens muss das Europaparlament, um mehr Identifikation zu schaffen, die Gesamtbevölkerung besser repräsentieren. Das bedeutet vor allem: Es muss vielfältiger werden. Dass etwa die Wahlbeteiligung bei Jugendlichen so niedrig ist, liegt sicher auch daran, dass eine altbekannte Floskel aus dem Innenleben der Parteien mehr ist als ein Klischee: „Hast du einen Opa, dann schick ihn nach Europa.“ Tatsächlich ist das Europäische Parlament mindestens „unterjüngt“. Gäbe es mehr Abgeordnete, die selbst als Erasmusstudenten im EU-Ausland waren oder zwischen Ausbildung, Berufseinstieg und erster Familienplanung stecken, würde dies die junge Generation sicherlich an die Wahlurne bringen. Auch von echter Gleichstellung der Geschlechter ist das Europaparlament noch weit entfernt. Die Parteien sollten dies bei ihrer aktuellen Kandidatenaufstellung berücksichtigen. Das neue Motto muss lauten: „Enkel, Mutter, Opa – Vielfalt nach Europa!“

Die gemeinsame europäische Kultur muss viel intensiver und öffentlichkeitswirksamer gefördert werden.

Drittens hatte der große Europäer Jacques Delors recht mit seinem Ausspruch: „Niemand verliebt sich in einen Binnenmarkt.“ Was dagegen die allermeisten Europäer unabhängig von ihren parteipolitischen Vorlieben eint, ist ihr Interesse an der gemeinsamen europäischen Kultur. Diese muss daher noch viel intensiver und öffentlichkeitswirksamer gefördert werden. Schon Jean Monnet, einer der Väter der Europäischen Union, erkannte rückblickend reumütig, wie viel besser es gewesen wäre, die Einigung Europas mit der Kultur zu beginnen statt mit der Wirtschaft. Nirgends lässt sich das Leitmotiv der EU „In Vielfalt geeint“ so stark spüren, wie in unserem größten Schatz, unserer reichen europäischen Kultur. Die europäische Einigung könnte hier im Alltag der Menschen noch viel stärker als Gewinn erfahrbar werden.

Europas Zukunft hängt davon ab, junge Europäer zu motivieren, die gemeinsame Union politisch mitzugestalten.

Junge Menschen wachsen heute in einem grenzenlosen Europa auf, im selbstverständlichen Austausch mit Menschen aus anderen Nationen. Erst kürzlich hat die Initiative „Pulse of Europe“ gezeigt, wie wichtig ihnen dieser Austausch ist. Mit Programmen wie den europäischen Kulturhauptstädten, der Ausweitung des Erasmusprogramms über Studierende hinaus auch auf Auszubildende sowie kostenlosem Interrail-Ticket für alle Jugendlichen kann es gelingen, mehr junge Europäer zu motivieren, die gemeinsame Union politisch mitzugestalten. Europas Zukunft hängt davon ab.

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Quelle: Tagesspiegel Causa



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